AllgemeinNervennahrung – das Paradoxon und die mehrdimensionalen Wirkmechanismen

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Kurzfristige Energielieferanten und Tranquilizer

Wer kennt es nicht? Mitten in einem vollgepackten Tag erscheinen wie aus dem Nichts ein paar zusätzliche Überraschungen, die auch noch schnell und bestmöglich erledigt werden müssen. Die Zeit ist wie immer knapp, die Kapazitäten erschöpft, die Nerven liegen blank. Jetzt kann nur noch ein Wundermittel helfen, das maximal performen lässt. Falls dies gerade ein solcher Moment ist, werden im Folgenden unmittelbar einige gesunde Alternativen und echte Lebensmittel zu den konventionellen Nahrungsmitteln vorgestellt, die ohne ungewollte Nebenwirkungen kurzfristige Effekte liefern.

1.      Schokolade

Die prominente Schokolade als Seelentröster enthält durch Fermentationsprozesse der Kakaobohne tatsächlich über 300 bekannte Substanzen, die unter anderem die Stimmung aufhellen und die Konzentrationsfähigkeiten verbessern können. Diese Wirkung steckt jedoch vermehrt in der rohen Kakaobohne oder noch am ehesten in sehr dunkler Schokolade. Um von dieser optimal zu profitieren, empfiehlt sich ein Aufspalten im Mundraum durch längere Verweildauer, vermehrte mechanische Zerkleinerung und Einspeichelung – sprich durch langsamen, sinnlichen Genuss und wortwörtlichem auf der Zunge Zergehen lassen. Weniger ist mehr und Qualität vor Quantität ist hier das Credo, um von den gewünschten Substanzen zu profitieren, ohne den Körper unnötig zu belasten.

2.      Süßigkeiten

Nicht zu unterschätzen ist beim Griff zu bunt verpackten Einfachzuckern in kreativem Design  die lebenslange Karriere als konditionierte Belohnung. Da bereits Neugeborene evolutionsbedingt eine Affinität zu Süßem haben – alles, was süß ist, kann in der Natur nicht giftig sein und sichert das Überleben – bieten sich Süßigkeiten als wiederholte Belohnung und Ruhigstellung eines Kindes optimal an. Zudem ist die schnelle Verfügbarkeit als Energielieferant zwar nachvollziehbar, jedoch die Menge im zirkulierenden Blut fraglich im Verhältnis zum tatsächlichen Bedarf durch vermehrte Denkleistung oder kurzfristige anaerobe körperliche Eskalationen. Tatsächlich fällt es schwer, einen sinnvollen Ersatz zu propagieren, da in den meisten Fällen eine Dopaminausschüttung durch andere Interventionen als das Essen gewinnbringender wäre. Wenn es sich jedoch in Ausnahmefällen um schnelle und möglichst einfache Energiebereitstellung handelt, kann zunächst Obst oder ein Stärke- und kohlenhydrathaltiges Wurzelgemüse wie auch vollwertiges Getreide gewählt werden, da die komplexeren Zuckermoleküle nach tatsächlichem Bedarf leicht aufgespalten und unkompliziert als Energie verwendet werden, jedoch in längeren Ketten ohne hochschießende Insulinspitzen im Blut verweilen und zur Verfügung stehen können. Von Süßungsmitteln ist nicht nur aufgrund der biochemischen Belastung des Organismus sondern auch der appetitanregenden Wirkung abzuraten.    

3.      Chips

Nebst einem gelungenen Marketing, der adoleszenten Konditionierung und dem hohen Anteil an Tryptophan durch den hohen Fett- und Kohlenhydratanteil ist besonders ein Aspekt dafür verantwortlich, dass in bestimmten Einrichtungen die Chips in den Automaten immer ausverkauft sind. Sie sind zwar durch ihre Konsistenz leicht zu zerkleinern, aber entfachen einen beachtlichen Sound: es herrscht Krieg im Kopf, Aggressionsbewältigung, Entladung und Ausdruck. Wird man sich der eigentlichen Wirkung bewusst, liegt eine Alternative sehr deutlich auf besonders unserer Hand: die aufgestaute Energie muss freigesetzt werden, am effizientesten durch Bewegung. Wenn der Klient oder wir selbst spontan kein Fitnessstudio oder den Personal Trainer besuchen können, geht es primär um den sofortigen Effekt und weniger um sportwissenschaftliche Überlegungen. Hierbei kann entweder Schatten- oder Kissenboxen, Rennen (auch am Platz), Tanzen oder Schreien Erleichterung verschaffen. Wenn das Kauen als Aggressionsbewältigung durch den evolutionär bedingten Mechanismus des M. Maseter gewünscht ist, kann man als Alternative in Portionen geschnittenes und nach Gusto gewürztes rohes und möglichst lautes Gemüse zerkleinern. Der Vorteil läge nicht nur in der Zufuhr von wertvollen Nähr- und Ballaststoffen, sondern auch in der erforderlichen Kauperformance, welches den Kaumuskel stärkt und somit nicht beispielsweise in der Nacht durch Zähneknirschen autonom trainiert werden muss.

4.      Deftiges und üppiges Lieblingsessen

Denken wir an unser Lieblingsessen, so fühlen wir auch die damit verbundenen positiven Emotionen und versetzen uns beim Verzehr in einen Zustand der Erinnerung, der unter anderem durch alle Sinne, die Tageszeit, die erlaubte Menge und die Gesellschaft verstärkt wird. Unter bewusster Berücksichtigung all dieser Effekte ist grundsätzlich nichts gegen den Genuss und die Wertschätzung als Bestandteil eines positiven Verhältnisses zum Essen einzuwenden, solange achtsam und mit einem gewissen Niveau gegessen wird und das Zelebrieren zu einem echten Erlebnis beiträgt. Die Freude am Essen wird jedoch nicht unbedingt durch das schnelle Verschlingen von großen Mengen erzeugt, sondern ähnelt dem tatsächlichen Genuss eines Feinschmeckers. Kleine Mengen, die in ruhigem und entspanntem Ambiente ohne Störfaktoren genossen werden, entfalten ohne unerwünschte Langzeitfolgen eine optimale holistische Wirkung auf unser Wohlbefinden. Als Umkonditionierung eines entgleisten Essverhaltens bietet sich eine wirksame und simple Intervention an, die zunächst nicht auf genereller Restriktion von geliebten Speisen basiert, sondern auf indirektem Einfluss auf die Menge und Frequentierung der Mahlzeiten: „Gegessen wird nur noch am Esstisch mit Teller und Besteck.“ Das verschafft wertvolle Zeit für körpereigene Prozesse wie Sättigung und Verdauung und schärft den Fokus und die Aufmerksamkeit, wodurch die Kontrolle durch Übung allmählich zurückerlangt wird.

5.      Genussmittel

Alkohol-, Nikotin- und weiterer Substanzenkonsum dürfen in einer Auflistung von Nervennahrung nicht vergessen werden. Wir sprechen nicht gerne darüber, ehrlicherweise haben wir jedoch schon alle Erfahrungen mit der Wirksamkeit von Genussmitteln in der Kompensation von stressigen Situationen gemacht. Doch warum genau sind wir so empfänglich für Abhängigkeiten von derart schädigenden Verhaltensweisen? Zugrunde liegt ergänzend zu endokrinologischen Wirkungen der Inhaltsstoffe ein orales Bedürfnis, worunter sich das Bedürfnis nach Beruhigung und Geborgenheit verbirgt, worunter sich häufig nichts anderes als elementare Angst verbirgt. Es handelt sich um die allererste Bedrohung, die wir kennengelernt haben, als wir bei der Geburt von der symbiotischen Verbindung durch die Nabelschnur und den Mutterleib getrennt worden sind. Ein Neugeborenes ist durch den Überlebenstrieb in der Lage, sich autonom ohne motorisch angelegte Fähigkeiten bis zur nährenden Brust der Mutter fortzubewegen, was kognitiv nicht erklärbar ist. So stark ist die Verknüpfung von der Saugmechanik, der „skin to skin“-Rezeptoren und dem Überleben in uns allen angelegt. Auch warme Getränke in Körpertemperatur lösen einen beruhigenden Effekt aus wie auch die Konsistenz der Flüssigkeit. Es erscheint somit durchaus nachvollziehbar, dass Koffeingetränkeketten durch den Verkauf von überteuerten, milchhaltigen, süßen und warmen Flüssigkeiten in haptisch angenehmen Behältern inklusive Strohhalm jährlich unglaublichen Umsatz generieren. Ein ähnlicher Effekt kann auch in Cocktailbars, Kinos, Schnellrestaurants und Fitnesstheken beobachtet werden. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte kann der mechanische, neurologische und psychologische Effekt genutzt werden und bewusst in der Verwendung von Trinkflaschen und Strohhalmen bedient werden, die jedoch beispielsweise mit reinem Wasser befüllt werden. Im Zusammenhang oraler Bedürfnisse ist auch zu erwähnen, dass das Trinken von größeren Mengen in geringeren Abständen mehr Oxytocin freisetzt als das hochfrequentierte Nippen von kleinen Mengen Wasser, das gerne empfohlen wird. 

Langfristige Energieumverteilung und Maßnahmen für Stresstoleranz

Wie wir stückweit gesehen haben, hat das Bedürfnis nach Nahrung in Stresssituationen nicht immer primär einen physiologisch akuten Hintergrund. Da wir jedoch von Anbeginn unseres Lebens und Erlebens das Essen mit Erfahrungen und damit verbundenen psychologischen wie auch neurologischen und biochemischen Prozessen verbunden haben und durch Wiederholung eingefahrene Muster angelegt haben, stellt sich eine Transformation in Form einer Verhaltensänderung als besonders komplex, vielschichtig und multidimensional heraus. Eine Umprogrammierung ist zwar durchaus trainerbar, benötigt jedoch ein tieferes Verständnis für die Verknüpfungen unseres gesamten Systems und vor allen Dingen viel Geduld und Übung. Im Folgenden werden weitere Tipps zur Umsetzung vorgestellt, die beim Übergang zur Abgewöhnung von ungeliebten Stressgewohnheiten auf mehreren Ebenen ansetzen und somit indirekt das sichtbare Problem und dessen Ausprägung beheben.

1.      Ein flach verlaufende Blutzuckerspiegelkurve 

Grundsätzlich sollte gerade bei häufig auftretendem Heißhunger und permanenter Nahrungssuche überdacht werden, ob das Verhältnis von einfachen Kohlenhydraten in den vorangegangenen Mahlzeiten nicht zu hoch war. Eine hohe Insulinausschüttung durch Blutzuckerspitzen führt auch zu einem rasanten Abfall, der sich in einem Unterzuckerungszustand bemerkbar macht und generell nach Abbau des Zuckers nervös und unruhig macht – und bald erneut zur Nahrungssuche antreibt, insbesondere nach einfachen und schnell in Energie umwandelbaren Zuckermolekülen. Eine Erhöhung der Eiweißbestandteile und langkettigen wie auch gebundenen Kohlenhydrate kann hier mittelfristig viel Ruhe in das System bringen. Um die Insulinausschüttung bei der darauffolgenden Mahlzeit niedrig zu halten, kann ebenso postprandiales Training wie ein vierminütiger Tabata integriert werden. Dies wäre als Nebeneffekt sogar hilfreich, um aufgestaute Energien nicht mit dem Vorgang des schnellen und übermäßigen Essens zu kompensieren.

2.      Nährstoffsättigung 

Zwar essen wir aufgrund von Stress und Zeitmangel viel und häufig, sind jedoch leider häufig dennoch qualitativ unterernährt. Im modernen hochfrequentierten Lebensstil fehlt es den meisten an wichtigen Mikro- und Makronährstoffen, was von unserem System registriert und als Mangel kommuniziert wird. Ein Beispiel hierfür ist der bekannte Mc Donalds- Effekt: in einem Menü ist eine hohe Kaloriendichte sowie ein üppiges Volumen enthalten, wodurch zwar eine kurzfristige Sättigung erreicht wird, nach erstaunlich kurzer Zeit jedoch erneut Hungergefühle auftauchen. Wie ist das möglich? Es ist eine gesunde Reaktion auf den Nährstoffmangel, der trotz permanenter Mahlzeiten nicht gedeckt wird. Achten wir eine zeitlang bewusst auf eine ausgewogene Ernährung, beruhigt sich die Suche und das Kreisen von permanenten Gedanken rund um die nächsten Mahlzeiten nach erstaunlich kurzer Zeit. Obst und Gemüse haben nicht nur einen hohen Wasseranteil und sind Ballaststoffreich, sondern weisen insbesondere eine unvergleichbar hohe Nährstoffdichte auf, die mit künstlichen Nahrungsergänzungsmitteln weder in der Vielfalt noch in der Bioverfügbarkeit vergleichbar sind. Empfehlenswert ist auch die Abwechslung von verschiedensten Gemüsearten und Kräutern, um von Inhaltsstoffen und gesunden Wirkweisen optimal zu profitieren.

3.      Metabolische Flexibilität 

Das intermettierende Fasten ist aktuell in aller Munde und verspricht zu Recht positive Effekte für Gesundheit, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit. Ging es oben um das Dilemma der quantitativen Überernährung mit gleichzeitiger qualitativen Unterernährung, richtet sich der Blick nun auf die problematische Belastung der hohen Nahrungsfrequenz und damit verbundenen Energieumverteilung und -verfügbarkeit. Im Hinblick auf den Metabolismus ist auch hier die Einseitigkeit der Energiegewinnung der entscheidende Aspekt, der uns in Stresssituationen zum Essen verleitet, wenngleich dies oft weder erforderlich noch hilfreich ist. Empfehlenswert ist eine langsame Umgewöhnung des Stoffwechsels, indem die Abstände allmählich vergrößert werden und unser System stufenweise immer besser lernt, die Energiegewinnung auch aus Gluconeogenese und Fettsäuresynthese zu organisieren. Ein gut trainierter und flexibler Metabolismus beruhigt unsere Nerven und das Gemüt, da wir auch in Zeiten der Nahrungskarenz über ausreichend Energie verfügen und der physiologische wie auch psychologische Fokus auf die aktuellen Anforderungen gerichtet werden kann.

Fazit: 

In Stresssituationen zum Essen zu greifen ist zwar eine gängige und populäre Maßnahme, langfristig bringt dieser permanente Automatismus zur kurzfristigen Problemlösung jedoch das menschliche System in eine ungünstige Schieflage, die wiederum zusätzlichen Zellstress erzeugt und damit unser gesamtes Nervensystem angreift. Ein gesundes Stressmanagement sowie Interventionen, in das unnötige Essen nicht utilisiert wird, um nervliche Belastungen auszugleichen sind zwar weitaus komplexer, bieten jedoch eine tatsächliche Lösung für das zugrundeliegende Problem und sorgen so für dauerhafte Ruhe im Nervensystem. Denn auch Schokolade schmeckt zwar kurzfristig und betäubt das Problem, kann uns jedoch nicht umarmen.    

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